Grimmepreis-Nominierung der Doku „Elternschule" sorgt für heftige Kontroversen
Kaum ein deutschsprachiger Dokumentarfilm war in den letzten Jahren so umstritten wie „Elternschule“. Eltern und Pädagogen zeigten sich entsetzt und kritisierten die darin gezeigten Methoden als vorgestrig. Andere äußerten sich begeistert über den Ansatz der liebevoll konsequenten Erziehung. Doch der Streit wird erbittert ausgetragen und die Fronten sind verhärtet. Die Grimmepreis-Nominierung von „Elternschule“ goss noch mehr Öl ins Feuer.
Grimmepreis-Nominierung stößt auf heftigen Widerstand
Um die Dokumentation „Elternschule“, in der es um die Abteilung für pädiatrische Psychosomatik der Kinderklinik Gelsenkirchen geht, haben sich seit seiner Premiere im Jahr 2018 heftige Diskussionen entfaltet. Mitte 2019 wurde der fast zweistündige Film erstmalig im deutschen Fernsehen ausgestrahlt, was die Kontroverse neu anfachte. Die nun erfolgte Nominierung für den Grimmpreis dürfte kaum dazu beitragen, die Wogen zu glätten.
#keinepreisefürgewalt – so lautet der Hashtag, unter dem sich in den Sozialen Medien Kritiker des Films organisieren, um eine Auszeichnung mit dem Grimmepreis zu verhindern. Das Grimme-Institut selbst scheint von der Vehemenz der Kritik überrascht worden zu sein. Etwas unbeholfen reagierte es mit dem Statement: „Die Therapieform ist teilweise brachial und vorgestrig. Dennoch ist erst durch diesen Film eine Diskussion über die Würde des Kindes ins Rollen gekommen“.
Doch diese Argumentation trägt nicht, weil sie impliziert, dass „brachiale und vorgestrige“ Methoden in Ordnung sind, solange sie zur Diskussion anregen.
Der Film Elternschule und warum er die Gemüter so erregt
Denn das große Manko des Filmes ist, dass er nicht kommentiert, nicht einordnet. Die Kamera ist ein reiner Beobachter und bei Therapiegesprächen, Fallbesprechungen und Elternschulungen hautnah dabei. Kritische Stimmen hört man nicht. Dabei ist es keineswegs so, dass die Gelsenkirchener Methode erst seit dem Film in der Kritik stünde. Bereits 2005 veröffentlichte der Spiegel einen überaus kritischen Artikel über Professor Ernst August Stemmann, der als Vorgänger der heute verantwortlichen Protagonisten Kurt-André Lion und Dietmar Langer Wegbereiter der Therapie war. War sie, Stemmanns Lehre folgend, ursprünglich rein auf die Behandlung der Neurodermitis ausgerichtet, kamen später Verhaltensauffälligkeiten, Schlafprobleme und Regulationsstörungen hinzu. Dabei setzen die Behandler auf einen integrativen Ansatz aus Aufklärung der Eltern über die Psychologie von Kindern einerseits und verhaltenstherapeutischen Maßnahmen andererseits. Im Film selbst ergibt sich aus den dokumentierten Szenen ein fragwürdiges Kinderbild: Das Kind sei von Natur aus ausschließlich am eigenen Überleben interessiert, dabei seien ihm die Eltern völlig egal. Zur Durchsetzung seiner Interessen sei ihm jedes Mittel Recht. Kinder seien gerissene Manipulatoren, die ihre Eltern an der Nase herumführen. Es sei an den Eltern, die Initiative und Führung zurückzugewinnen. Dazu bedürfe es „liebevoller Konsequenz“, die sich auch dergestalt äußere, dem mit seinem Verhalten nach Aufmerksamkeit haschenden Kind eben gerade nicht zu geben, was es wolle, und es mit seinem Weinen, Trotzen und den Wutausbrüchen ins Leere laufen zu lassen.
In der Bubble des Films wirkt das alles durchaus plausibel. Das Kamerateam begleitet einige ausgewählte Fälle über ein Jahr, und der Betrachter wird Zeuge, wie sich der Zustand und das Verhalten der kleinen Patienten allmählich bessert, auch wenn einige Szenen durchaus herzzerreißend sind.
Und es ist ja auch nicht von der Hand zu weisen: Kinder testen ihre Grenzen aus. Kinder versuchen ihre Eltern zu manipulieren, um ihren Willen zu kriegen. Der leitende Psychologe spricht von einem „gegenseitigen Kontrollverhalten“ zwischen Eltern und Kind. Und zweifellos ist es nicht die Schuld der Kinder, wenn ihre Eltern mit ihnen überfordert sind. Auch deshalb ergibt der Ansatz, sowohl bei den Kindern als auch bei den Eltern anzusetzen, absolut Sinn.
Aber ist es deswegen richtig, kleine Kinder zwangsweise von den Eltern zu trennen und sie im Käfig eines Gitterbetts alleine schreien zu lassen? Ist es nicht Grausamkeit wie aus längst vergangenen Zeiten, wenn den Eltern eingeschärft wird, sich ja nicht erweichen zu lassen?
Genau solche Methoden sind es, die Kritiker Sturm laufen lassen:
„Der Film zeigt zahlreiche Szenen, in denen Kinder psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt sind“. So äußert sich der Deutsche Kinderschutzbund.
Doch auch das Bürgerliche Gesetzbuch pocht auf das Kinderrecht auf eine gewaltfreie Erziehung. nur: Wo fängt Gewalt an, und was darf eine Therapie, in die die Eltern eingewilligt haben?
Thema Erziehung – ein zweischneidiges Schwert
Der Konflikt wird erbittert ausgetragen und beide Seiten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Kinobetreiber wurden unter Druck gesetzt, um die Vorführung des Filmes zu verhindern, in den Sozialen Medien wütete ein Shitstorm und sowohl Verlag als auch Verantwortliche der Abteilung für psychosomatische Pädiatrie sahen sich heftigen verbalen Angriffen ausgesetzt. Nach dem Film wurde die Klinik mit Strafanzeigen überzogen.
Die Zeit schrieb dazu in einem Artikel vom 25. Oktober 2018:
„Wer zu ergründen versucht, wie es zu diesen Vorwürfen kommt und was daran berechtigt ist, stößt auf schwerwiegende Missverständnisse. Aber auch auf wenig Interesse, diese aufzulösen. Der Streit um Elternschule zeigt, dass sich Menschen hierzulande nicht nur in der Flüchtlingsfrage unversöhnlich gegenüberstehen, sich weigern, einander zuzuhören. Dass es bei Diskussionen oft nicht mehr um die Sache geht, sondern um Meinungen, um den eigenen Lebensentwurf, die eigene Identität.“
Wenn jedoch Ideologie ins Spiel kommt, bleibt die Sachlichkeit oft auf der Strecke. Man weiß heute durchaus, dass man ein Kind im ersten Lebensjahr nicht verwöhnen kann und möglichst immer direkt auf seine Bedürfnisse reagieren sollte. Allerdings geht diese Phase auch irgendwann vorbei, und früher oder später versuchen Kinder tatsächlich, ihre Grenzen auszutesten.
Dies kann Eltern eine gewisse Konsequenz und entsprechend auch „Unnachgiebigkeit“ abverlangen. Bei einem temperamentvollen Kind mag das zu Situationen führen, die für strikte Anhänger des Attachment Parenting schwer aushaltbar sind. Denn wann erfolgt der Übergang? Ab wann muss man sich lösen vom Kindesbild des völlig schutzlosen und bedürftigen Wesens hin zu einer Persönlichkeit, die ihre eigenen Interessen durchsetzen will, bei denen es dann gar nicht mehr um Grundbedürfnisse geht. Wie umgehen mit Schreiattacken an der Supermarktkasse? Was tun, wenn sich das Kind trotzig auf den Boden wirft?
In einem ARD-Interview zum Film betont der verantwortliche Psychologe Dietmar Langner, dass es sich bei den im Film gezeigten Eltern und Kindern um Extremfälle handele, die keineswegs den üblichen therapeutischen Alltag abbildeten.
Erfahrungsberichte von Eltern
Auf der anderen Seite stehen erschütternde Erfahrungsberichte von Eltern, deren Kinder dort in Behandlung waren. Sie schildern, wie der Wille ihrer Kinder gebrochen und sie selbst als Eltern gemaßregelt oder sogar selbst für ihre Misere verantwortlich gemacht wurden. Man redete ihnen dort ein schlechtes Gewissen ein und gab ihnen die Schuld am Verhalten ihres Kindes. Nicht wenige brachen die Therapie ab, andere litten genauso wie ihr Nachwuchs unter den Nachwirkungen, und das teilweise noch Jahre später.
Die Glaubhaftigkeit solcher Beträge im Internet ist schwer einzuschätzen. Allerdings hat die bekannte Pädagogin Katja Saalfrank einige davon auf ihrer Internetseite veröffentlicht und ihnen damit Gewicht gegeben.
Andererseits überwiegen im Bewertungsportal zur Kinderklinik die positiven Rückmeldungen.
Seit September 2020 ist Schluss
Zur Verleihung des Grimmepreises ist es dann am Ende doch nicht gekommen und mittlerweile hat die Abteilung für pädiatrische Psychosomatik der Kinderklinik Gelsenkirchen das Programm eingestellt. Als Grund werden auf der Homepage rein wirtschaftliche Gründe angegeben. Patienten würden das Angebot nicht wahrnehmen können, weil der dreiwöchige Aufenthalt für viele Familien eine zu große Hürde darstelle. Doch obwohl betont wird, dass es sich um eine „rein ökonomische Entscheidung“ handelte, lässt es sich der damalige Geschäftsführer, Werner Neugebauer, nicht nehmen, in der Pressemitteilung zur Schließung der Abteilung auch auf den Disput rund um den Film „Elternschule“ einzugehen:
„Für das hochprofessionelle Team der Psychosomatik war das eine unerträgliche Situation. Die teilweise diskreditierende Polemik machte eine sachliche Diskussion unmöglich. Der Film ist kein Film über Erziehung. Er zeigt die Therapie von psychosomatisch schwer erkrankten Kindern, die psychisch und oft auch körperlich schwer belastetet sind. Wir waren für die Kinder und ihre Familien oft die letzte Chancen [sic!], wenn ambulant alles ausgeschöpft war.“
Letzten Endes hat das Grimme-Institut also doch noch Recht behalten mit seiner Behauptung, dass die Leistung des Filmes darin Läge, die Diskussion in Gang gebracht zu haben. Auch wenn die Klinikleitung es abstreitet, darf angenommen werden, dass der Film und die daraus entstandene Auseinandersetzung zumindest erheblich zur Schließung der Abteilung beigetragen hat. Gleichzeitig lässt einen die Schlammschlacht und die Art und Weise der Debatte etwas ratlos zurück. Es ist fast absurd, dass bei einem Streit um eine Klinik, die sich unter anderem der Behandlung von Regulationsstörungen verschrieben hat, die Emotionen der Kontrahenten dermaßen frei ins Feld schießen, dass man sich fragt, ob ein wenig Regulierung der Debatte nicht zuträglich gewesen wäre.
Betroffenen Eltern, die verzweifelt nach einer Lösung für ihre häusliche Situation suchen, wäre sicher besser geholfen gewesen mit einer ausgewogenen Debatte, die auch bemüht ist, Extremfällen Alternativen aufzuzeigen.
Diese Chance wurde im ideologischen Grabenkampf vertan.
Weitere Blogartikel, die dich interessieren könnten: