Erziehung früher: Dunkle Zeiten
Wie so vieles unterliegen auch Erziehungsmethoden dem jeweiligen Zeitgeist. So war die 1968er-Generation beispielsweise Wegbereiter für die antiautoritäre Erziehung der 70er Jahre, um mit gutem Grund gegen ein überkommenes Erziehungsideal aufzubegehren, das dem autoritären Ungeist der Elterngeneration entsprungen war. Und bei der Erziehung früherer Jahre, etwa im Nationalsozialismus und während der Nachkriegsjahre, hatten die Kleinen wahrlich nichts zu lachen. Zu Recht finden wir die Erziehungsmethoden unserer Großeltern heute haarsträubend und teilweise verstörend. Doch kann es sein, dass uns längst überkommene Erziehungsmethoden bis in die Gegenwart stärker beeinflussen als wir glauben?
Erziehung hieß früher Zucht und Ordnung
Johanna Haarer war Autorin des 1934 erschienenen Ratgebers „Die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind“. Die promovierte Lungenfachärztin hatte zwar niemals eine Ausbildung in Pädiatrie oder Pädagogik genossen, galt jedoch weithin als Koryphäe der Erziehung. Ihre Bücher waren Bestseller, fast alle Mütter hatten ein Exemplar davon im Regal stehen. Die Ratgeber entsprachen ganz und gar der Nazi-Ideologie, sodass Johanna Haarer gezielte Förderung der Nationalsozialisten genoss. In sogenannten „Reichsmütterschulungen“ wurden mehr als 3 Millionen Mütter mit ihren Lehren vertraut gemacht, und die allgemein geltenden Regeln zur Säuglingspflege wurden nach ihren Vorgaben vereinheitlicht. Ihr Ratgeber lieferte die Grundlage für die Erziehung in Kindergärten und Kinderheimen. Bis Kriegsende wurden 690.000 Exemplare des Buchs verkauft. Allerdings war es in der Bundesrepublik in bereinigter Form auch nach 1945 noch bis 1983 im Handel erhältlich und schaffte es so insgesamt auf 1,2 Millionen verkaufte Bücher.
Babys Bedürfnisse? Am besten ignorieren
Damit aus dem Nachwuchs gute Soldaten oder „deutsche Mütter“ und vor allem Mitläufer hervorgehen konnten, wurde empfohlen, ihn bereits als Baby einer entsprechenden Behandlung zu unterziehen. Auf diese Weise sollten – ganz im Sinne des Nazi-Regimes – „harte“, gnadenlose und willenlose Mitläufer herangezogen werden, die sich durch ihre ungestillte Sehnsucht nach Anerkennung und Zugehörigkeit willfährig manipulieren lassen würden.
Die junge Mutter wurde ausdrücklich davor gewarnt, ihr Baby mit zu großer Fürsorge zu behandeln. Es sollte nicht aus seinem Bettchen herausgenommen werden, und das Tragen und Wiegen wie auch das einfach Auf-dem-Schoß-Halten waren strikt zu vermeiden. Ansonsten hätte das Baby schnell gelernt, dass es nur zu schreien brauche, um erfolgreich Fürsorge einzufordern. Es hätte dann keine Ruhe mehr gegeben, bis es nicht seinen Willen bekommen hätte. Und genau das galt es zu vermeiden.
Das Baby wurde regelrecht als Quälgeist angesehen, dessen Wille gebrochen werden musste. Wickeln, Anziehen und Füttern war der Mutter noch erlaubt, doch ein Überschütten mit Liebe war tabu. Dies hätte das Kind angeblich nur unnötig verweichlicht. Mütter wurden dazu aufgefordert, ihre Babys zwar mit dem Nötigsten zu versorgen, sie ansonsten aber einfach zu ignorieren und mit Zärtlichkeiten und Berührungen äußerst sparsam umzugehen.
Weitere grausame Empfehlungen waren etwa, das Baby nach der Geburt 24 Stunden lang von seiner Mutter zu trennen und sich nur in einem vernünftigen Deutsch, niemals aber in Babysprache mit ihm zu unterhalten.
Es verwundert dementsprechend nicht, dass Mütter auch angehalten wurden, ihre Kinder einfach schreien zu lassen. Es hieß, dies stärke die Lungen. Ziel war, die Kinder möglichst zu emotions- und bindungsarmen Bürgern des Dritten Reichs zu erziehen. Daher sollten Mütter auch den Körperkontakt zu ihren Babys so gering wie möglich halten und sogar Augenkontakt vermeiden.
Von einer Generation zur nächsten
Natürlich wurde längst nicht jede Mutter im Fahrwasser von Haarers Lehren zur Täterin an ihren eigenen Kindern. Viele erkannten die Unmenschlichkeit und lehnten die Methoden ab. Dennoch sind die eingangs genannten Zahlen erschreckend und zeigen, dass immer noch ein großer Teil der damaligen Gesellschaft diesen Ideen anhingen. Als besonders verheerend ist ihre Umsetzung in Kindergärten und Kinderheimen zu bewerten. Die Folgen dieser brachialen Erziehungsmethode zeigte sich dann auch bis weit über die Nachkriegsjahre hinaus in den Psychologenpraxen. Der emotions- und bindungsarme Umgang mit dem Kind führte zwangsläufig zum Verlust des Urvertrauens und infolgedessen zu emotional verkümmerten und traumatisierten Menschen. Und die Kinder dieser Kriegsgeneration bekommen es nun ihrerseits mit Eltern zu tun, die in den prägenden Jahren niemals emotionale Nähe erfahren haben und deren Bindungsfähigkeit massiv gestört ist. Im Ergebnis vererbt sich das Trauma von einer Generation zur nächsten – so lange, bis es gelingt, es aufzulösen.
Gesellschaftliche Folgen bis heute?
Erstaunlicherweise gibt es bis heute keine randomisiert-kontrollierten Studien zu den Nachwirkungen von Haarers Erziehungslehre, und in der Öffentlichkeit wird das Thema weitgehend ignoriert. Doch auch wenn dafür das dünne Eis der Spekulation betreten werden muss und auch wenn zweifellos eine Vielzahl weiterer Faktoren für den heutigen Zustand der Gesellschaft in Rechnung zu stellen sind, lassen sich doch allerorten Tendenzen erkennen, die sich möglicherweise auf gestörte Empathie und fehlende Bindungsfähigkeiten zurückführen lassen. Seelische Erkrankungen wie Depressionen oder Burnout haben Hochkonjunktur, immer weniger Paare entscheiden sich für ein Kind und im Jahre 2020 wurde jede dritte Ehe geschieden. Mittels Konsums und anderer Süchte wird versucht, eine innere Leere zu füllen, und immer neue Gadgets wie das neueste Smartphone oder die neuste App sowie immer schrillere Formen der Unterhaltung bieten willkommene Ablenkung vom andernfalls immer trister werdenden Alltag – aber auch von den umgebenden Menschen. Den eigenen Kindern zum Beispiel. Und das Trauma wandert in die nächste Generation.
Neue Ansätze – für selbstbewusste und empathische Kinder
Wenngleich die Erziehungsphilosophie einer Johanna Haarer heute Abscheu und Entsetzen hervorruft, wirken die Folgen doch bis heute weiter. Glücklicherweise hat seit einigen Jahrzehnten ein Umdenken eingesetzt, das immer mehr um sich greift. Nach den Experimenten der 68er-Generation sind wir heute bei Ansätzen angekommen, die die Bedürfnisse des Kindes in den Vordergrund stellen, ohne dies in ein orientierungsloses laissez faire ausarten zu lassen. Dies gibt Hoffnung, dass wir unsere Kinder mit allem ausstatten, was sie brauchen, um nicht nur ein erfolgreiches und glückliches Leben zu führen, sondern auch alte Traumata hinter sich zu lassen und eine bessere, menschenwürdigere Gesellschaft aufzubauen. Doch ein enger, liebevoller und empathischer Kontakt zu unseren Kindern ist keine Einbahnstraße. Indem wir berühren und uns berühren lassen, Empathie schenken und empfangen kann es uns schon heute – durch unsere Kinder – gelingen, alte Wunden zu heilen und zusammen mit ihnen die Zukunft zu erschaffen. So bauen wir die Straße, während wir auf ihr fahren.
Quellen:
- Die Zeit (09/2018)
- Spektrum (17.02.2019